Was fordert die MDR im Bereich Usability Engineering und wie kann ein Usability Engineering gelingen, dass normgerecht UND pragmatisch ist und trotzdem zum Produkterfolg beiträgt?

Die Entwicklung von Medizinprodukten wird zunehmend regulierter und die Einstiegshürden für neue Hersteller auf dem Markt steigen. Auch für erfahrene Unternehmen kann es schwierig sein, den Überblick zu bewahren, was tatsächlich verlangt wird. Ein Bereich, der in den letzten Jahren und Jahrzehnten überwiegend ein Schattendasein geführt hat, wird nun zunehmend ins Rampenlicht gezerrt: Das Usability Engineering.
Die Veröffentlichung der neuen IEC 62366-1 legt den Fokus deutlich stärker auf die begleitende formative Evaluation als die Vorgängernorm 62366. Aber was sagt die MDR dazu?
Sucht man in der deutschen Version der MDR nach dem Begriff „Usability“ erhält man auf 175 Seiten insgesamt NULL Treffer. Dadurch könnte schnell der Eindruck entstehen, dass Usability Engineering laut MDR weder bekannt, noch benötigt wird. Doch dieser Eindruck täuscht. Schon eine kleine Änderung der Suchbegriffe zeigt andere Ergebnisse. Sucht man nach dem deutschen Begriff „Gebrauchstauglichkeit“ findet man bereits zwei Erwähnungen.
Der Einschluss von weiteren relevanten Suchbegriffen (z.B. Fehler, Bedienung) führt zu mehr als zehn Stellen, an denen die MDR Anforderungen an die Gebrauchstauglichkeit des Medizinprodukts und der Begleitdokumentation stellt. Beispielhaft sind folgende Anforderungen zu nennen:
- Reduktion von Risiken auf Grund ergonomischer Merkmale (z.B.: Annex 1, Kapitel 1. Absatz 5a)
- Berücksichtigung der Fähigkeiten, Fertigkeiten etc. der Nutzer (z.B.: Annex 1, Kapitel 1. Absatz 5b)
- Verwendung durch Laien muss sicher und fehlerfrei möglich sein. (z.B.: Annex 1, Kapitel. Absatz 22.2)
Die MDR nimmt Usability Engineering dabei so wichtig, dass ein Anwendungsfehler als Produktmangel definiert wird (Artikel 2, Begriffsbestimmung, Punkt 59). Es empfiehlt sich also, das Thema Usability Engineering ernst zu nehmen. Einmal, um allen formalen Anforderungen gerecht zu werden, aber auch, um einen Wettbewerbsvorteil zu erlangen.
Aus eigenen Interviews mit klinischem Fachpersonal (Ärzte) ergab sich die Schätzung, dass sie aufgrund von schlechter Usability jeden Tag ca. 30 Minuten mehr in die Bedienung von Medizinprodukten/-geräten investieren als notwendig. Selbst wenn man diese Schätzung auf nur 5 Minuten reduzieren würde, ergibt sich ein enormer wirtschaftlicher Vorteil für Kliniken, die Geräte mit einer besseren Usability einsetzen. Laut Bundesärztekammer waren im Jahr 2016 194.401 Ärzte in deutschen Kliniken beschäftigt (1). Dies entspricht einer Einsparung von mehr als 16.000 Stunden Arbeitszeit. Täglich. Aber nicht nur die Kliniken profitieren von einer besseren Usability, auch die Hersteller sind in der Lage neue Kunden zu gewinnen. Eine aufgeräumte und optisch ansprechende Benutzeroberfläche beeindruckt deutlich mehr und schneller als eine nicht mehr zeitgemäße Oberfläche. Im Schnitt benötigen Menschen für eine Ersteinschätzung weniger als eine zehntel Sekunde (2). Der entstehende Eindruck danach bleibt relativ stabil. Innerhalb der ersten Sekunden fällt hier also schon eine Vorentscheidung – für oder gegen den Kauf eines Produkts. Zu einem Zeitpunkt, zu dem die Featureliste noch nicht gelesen ist.
Ein gelungenes Usability Engineering ermöglicht es Herstellern von Medizinprodukten beide Seiten zu bedienen:
- Erfüllung aller zulassungsrelevanten Kriterien im Bereich
Usability und - Die Gestaltung von einem Produkt, das den Nutzer (und
Einkäufer) begeistert.
Voraussetzung ist jedoch ein sinnvoller und pragmatischer Usability Engineering Prozess, der folgende Kriterien berücksichtigt:
- Planung aller Usability Engineering Tätigkeiten zu Projektbeginn (z.B. bei Beginn der Produktentwicklung)
- Durchführung des Usability Engineerings in frühen und kurzen Sprints
- Jeder Sprint sollte aus einer Designphase und einer Testphase mit echten Nutzern bestehen
- Testen des Produkts mit schnell erstellten und günstigen Prototypen, um schnell und kostengünstig iterieren zu können
- Zielführende Dokumentation der Ergebnisse auf eine Art und Weise, die sowohl für die normgerechte Dokumentation als auch für das Entwicklerteam zielführend ist.
Das beste Kosten-Nutzen-Verhältnis im Usability Engineering erreicht man durch mehrfach genutzte Sprints. So können gleichzeitig die Aufgaben der Nutzer und die einzelnen Abläufe analysiert werden, während im gleichen Sprint bisherige Erfahrung mit Vorgänger- oder Konkurrenzprodukten erhoben oder erste Designvorschläge präsentiert und getestet werden. Die erhaltenen Informationen fließen im Anschluss direkt in die Gestaltung des Medizinprodukts ein. Dies gilt sowohl auf der inhaltlichen Ebene (Welche Funktionen? Welcher Ablauf? Welche Reihenfolge?), als auch auf optischer Ebene (Was gefällt? Was wird gut verstanden? Was spricht die Entscheider an?).
Genauso verhält es sich mit dem Risk Management. Eine enge Abstimmung zwischen Risk Manager und Usability Engineer ermöglicht von Beginn an einen Fokus auf Hazard-Related Use Scenarios in den formativen Tests. Dadurch gelingt es, die Produktgestaltung während der formativen Tests soweit zu optimieren, dass ein „Durchfallen“ in der summativen Evaluation beinahe ausgeschlossen werden kann. Hierzu ist es wichtig, dass der Usability Engineer ein gutes Verständnis von potenziellen Risiken hat und diese proaktiv an das Risk Management weitergibt. Im Idealfall des pragmatischen Usability Engineering Ansatzes wird die Post Market Surveillance ebenfalls durch persönliche Befragungen begleitet. Das ermöglicht neben der Erfüllung der Pflicht zur Marktüberwachung zusätzlich die Generierung von Input für die Entwicklung eines Nachfolge oder Begleitprodukts. Einen idealtypischen Prozess zeigt Abbildung 1.
Unternehmen, denen es gelingt den Usability Engineering Prozess so umsetzen, haben im Vergleich zu anderen Wettbewerbern einen deutlichen Marktvorteil, der sich nicht selten in der Marktführerschaft oder dem Weg dorthin zeigt. Auf Basis der Erfahrung unserer Kunden zeigt sich als ROI, dass durch gelungenes und pragmatisches Usability Engineering eine bis zu 50 % kürzere Bedienzeit, eine bis zu 50 % kürzere Trainingszeit und – nach erstmaliger Durchführung von Usability Engineering Tätigkeiten während der Entwicklung – gleichzeitig eine bis zu 25 % bessere Bewertung der Kunden möglich ist.
Die große Mehrzahl unserer Kunden berichten zudem von einer kürzen Produktentwicklungsphase, bei der konsequenten Integration von Usability Engineering ab der ersten Produkt(-überarbeitungs-)idee. Voraussetzung dafür ist jedoch, die Bereitschaft tatsächlich mit echten Nutzern zu arbeiten und zu testen und zwar schon formativ, während der Entwicklung. Daran führt – auch bei einem pragmatischen Usability Engineering Ansatz – kein Weg vorbei.
Quellen:
- https://www.bundesaerztekammer.de/ueber-uns/aerztestatistik/aerztestatistik-der-vorjahre/aerztestatistik-2016/imkrankenhaus- taetige-aerzte/
- Marzi, T., Righi, S., Ottonello, S., Cincotta, M. und Viggiano, M.P. 2012. Trust at first sight: evidence from ERPs. Social Cognitive and Affective Neuroscience. Volume 9, Issue 1, January 2014, Pages 63-72.
Der Artikel erschien in der Ausgabe 5/20 der MED engineering. -mba
Autorin:

Geschäftsführerin und Gründerin
Medical Devices Usability Expert