Die Ergebnisse des Publikumvotings auf der MDR-Branchenkonferenz des BVMed zeigen ein verhaltenes Meinungsbild der Branche über die Vorbereitung des Geltungsbeginns

Seit gestern ist die Medical Device Regulation, kurz MDR, nach einem zusätzlichen Jahr der Übergangsperiode nun geltend. Der Branchenverband BVMed nahm dies zum Anlass, um zusammen mit den Verbandsmitgliedern einen Blick auf die neuen Richtlinien zu werfen.
Abermals wurde klar, dass sich die Kleinen Mittelständischen Unternehmen (KMUs) nicht genug unterstützt fühlen. BVMed-Vorstand Lugan bewertete die Verschiebung der MDR zwar als wichtig, doch sie sei nur ein Signal geblieben. Für die Unternehmen hat sich kein wirklicher Mehrwert ergeben, einzig die Behörden und Gesetzgeber konnten von dem Extrajahr profitieren. Lugan bezeichnete die MDR weiterhin als „schärfste Regularien der Welt“ und betonte, dass sie für den internationalen und auch nationalen Wettbewerb ein großes Hindernis darstellen würden. So könne es in Zukunft dazu kommen, dass vielversprechende Gründer von den neuen Vorschriften abgeschreckt werden und es viele Medizinprodukte gar nicht erst in die MDR schaffen. „Bestandsprodukte sind in ihrer Zulassung gefährdet, warum sollte man dann auf Innovationen setzen?“, stellte er berechtigt die Frage in den Raum.
Die USA, mit ihrer pragmatischeren FDA, sowie China könnten so an Deutschland und der EU im Markt vorbeiziehen, denn alleine die zeitlichen Verzögerungen durch die Auditierungen der Produkte lassen einen erheblichen Wettbewerbsnachteil entstehen. Das Publikumsvoting der Verbandsmitglieder und Konferenzteilnehmer zu einzelnen Knackpunkten der MDR ließ ein klares Stimmungsbild erkennen:

Eine überwiegende Mehrheit der Teilnehmer sprach sich für eine schlechte Vorbereitung des Geltungsbeginns aus und spiegelte somit die Befürchtungen Lugans aus der Eröffnungsrede wider. Knapp 42% fanden, dass der Geltungsbeginn größtenteils gut umgesetzt wurde, aber noch viele Unsicherheiten beinhaltet. Dr. Matthias Neumann vom Bundesministerium für Gesundheit schien in der darauffolgenden Diskussionsrunde auf das Ergebnis vorbereitet gewesen zu sein und debattierte über die gefühlsmäßigen Empfindlichkeiten der betroffenen Unternehmen. Aus seiner Perspektive wurde das „menschenmöglichste getan“ um die MDR umzusetzen, denn alleine vom Volumen der Richtlinien stelle die MDR eine außerordentliche Leistung dar. Zu den diskutierten virtuellen Audits bemerkte er, dass man während der Pandemie durchaus gute Erfahrungen gemacht habe, „aber sie werden nie ein vollständiger Ersatz für Vor-Ort-Audits sein können“. Er sprach sich weiterhin für eine Qualität und keine Quantität bei den Auditierungen aus, da sonst der Sinn der MDR verfehlt werden würde.

Doch diese hohen Qualitätsanforderungen scheinen ein deutliches Opfer mit sich zu bringen. Bei der Frage „Werden Sie alle Bestandsprodukte in die MDR überführen können?“ antworteten 30% der Befragten damit, dass sie bereits Produkte aus dem Sortiment genommen haben und 44,3% antworteten damit, dass das Produktsortiment in der Zukunft auf jeden Fall reduziert wird. Nur ein Viertel der Befragten konnte sein gesamtes Sortiment durch die MDR bringen.

Außerdem fehlte ein klares „Ja“ zur Frage danach, ob die Patientensicherheit durch die MDR überhaupt erhöht wird. Ungefähr 66% der Befragten sahen in den Richtlinien Potenzial dazu, scheinen aber weiterhin verunsichert zu sein. Patientensicherheit durch Produkte ist das eine, doch wenn Materialien gänzlich fehlen – so z.B. die besonders gefährdete Gruppe der Orphan Devices – und damit die Versorgung an sich gefährdet ist, kommt die Frage auf, ob die hohe Sicherheit der Verfügbarkeit voranzustellen ist.
Lugan schloss in seinem Fazit damit, dass vielleicht eine Systemfrage gestellt werden muss. Wird die MDR in ihrem jetzigen Zustand funktionieren, oder sollte man sich vielleicht etwas bei den USA abschauen, um das Prozedere zu vereinfachen? Es brauche smarte Lösungen bei der Versorgungssicherheit und den Zertifizierungen, denn dass z. B. ein technischer Katalog für ein Kathederprodukt von ca. 350 Seiten auf 1850 Seiten anwächst droht innovative Bereiche auszubremsen – mit katastrophalen Folgen für die Patientenversorgung und für den MedTech-Standort in Deutschland und Europa. „Wir müssen Benannte Stellen schneller notifizieren, Remote Audits auch in Deutschland zulassen, die Übergangsfrist für Altzertifikate verlängern sowie pragmatische Lösungen für bewährte Bestandsprodukte und Nischenprodukte etablieren“, so Lugan weiterhin. Insgesamt hält der BVMed-Vorsitzende die MDR für noch nicht praxistauglich.
Einen optimistischen Ausblick aus europäischer Sicht nahm Erik Hansson, Stellvertretender Abteilungsleiter „Bewertung von Medizinprodukten und Gesundheitstechnologien“ bei der Generaldirektion Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (DG SANTE) der Europäischen Kommission, vor. Die europäische CE-Kennzeichnung sei eine weltweite Erfolgsgeschichte. Wichtigstes Ziel der MDR sei es, die Anforderungen an die Benannten Stellen und an die Zulassungen zu harmonisieren. Die MDR habe dabei eine 13-jährige Vorgeschichte, die auch den Brustimplantate-Skandal umfasse. Dadurch sei die Beschäftigung mit dem Thema durch Politik und Öffentlichkeit deutlich intensiver geworden – und der Druck auf die Europäische Kommission gestiegen. Aufgabe der Kommission war es, einen Ausgleich zwischen den verschiedenen Interessen vorzunehmen, so Hansson. Eine Maßnahme vor der MDR war die europaweite Überprüfung aller Benannten Stellen, die dazu geführt habe, dass einige Organisationen bereits vom Markt verschwunden seien. „Die weiter gestiegenen Anforderungen haben dazu geführt, dass wir heute bei den Benannten Stellen ein Übergangsproblem haben“, so der Kommissionsexperte. Hinzu seien „Ablenkungen“ durch Brexit, Verhandlungen mit den USA, Abkommen mit der Schweiz und der Türkei sowie durch die Corona-Pandemie getreten. Es sei eine große Herausforderung, dass das System nun auch funktioniere. „Das System ist bereit, umgesetzt zu werden, aber die Arbeiten sind noch nicht abgeschlossen“, so das Fazit des Kommissionsexperten. „Es bleibt eine holprige Straße.“

Serge Bernasconi, CEO des europäischen Industrie-Dachverbandes MedTech Europe, bezeichnete den MDR-Geltungsbeginn als wichtigen Meilenstein für die Branche: das alte Rechtssystem mit den Richtlinien existiert damit nicht mehr. Dies sei aber kein Endpunkt, denn: „Das neue System ist noch nicht bereit. Die Arbeiten, die notwendig sind, um ein neues System zu entwickeln, wurden sicherlich unterschätzt“, so Bernasconi. Der Fokus liege nun auf Mai 2024, wenn die alten Zertifikate ihre Gültigkeit verlieren. Hier gebe es noch viele offene Fragen, für die Lösungen gefunden werden müssten. „Wir müssen mehr Ressourcen bereitstellen. Wir müssen beispielsweise bei den Benannten Stellen die Benennungsverfahren beschleunigen“, forderte Bernasconi. Wichtig sei es, die dreijährige Übergangsperiode „gemeinsam und pragmatisch zu gestalten, damit das System 2024 glatter läuft“. Dazu gehöre auch eine gute Unterstützung der kleinen und mittleren Unternehmen. Sobald das System reibungslos funktioniere, werde Europa auch wieder im internationalen Wettbewerb gut und innovationsfreundlich aufgestellt sein.

„Wir müssen kontinuierlich im Gespräch mit der Politik und der Kommission bleiben“, kommentierte BVMed-Geschäftsführer Dr. Marc-Pierre Möll die Gesprächsangebote von Erik Hansson und Dr. Matthias Neumann. Dabei müsse eine Balance zwischen der Sicherheit der Patientenversorgung auf der einen sowie innovationsfreundlichen Rahmenbedingungen für eine mittelständisch geprägte und stark exportorientierte Medizinprodukte-Industrie auf der anderen Seite gefunden werden. „Wir brauchen einen kontinuierlichen Diskurs über die MDR mit der Politik und den Behörden“, so Möll.

Dr. Rainer Edelhäuser, Direktor der Zentralstelle der Länder für Gesundheitsschutz bei Arzneimitteln und Medizinprodukten (ZLG), zeigte sich wenig überrascht, dass noch nicht genügend Benannte Stellen unter der MDR existieren. „Wir haben von Anfang an versucht, den Prozess der Neubenennung der Benannten Stellen realistisch zu betrachten. Das ist auf beiden Seiten ein sehr zeit- und ressourcenintensiver Prozess“, so Edelhäuser. Die Benannten Stellen hätten Ressourcen nicht immer für die zügige Bearbeitung der Benennungsanträge aufgewendet, denn der nachvollziehbare Fokus lag zunächst auf der Verlängerung der Richtlinien-Bescheinigungen. Der Benennungsprozess unter der MDR sei sehr viel komplexer – unter Einbeziehung der Europäischen Kommission und mit Einspruchsmöglichkeiten für die Beteiligten. Edelhäuser erwartet, dass zu den derzeit 20 Benannten Stellen in den nächsten Monaten 6 bis 7 weitere Stellen hinzukommen. Langfristig geht er von einer Verdopplung der jetzigen Zahl aus. Außerdem stimme ihn hoffnungsfroh, dass die Kapazitäten in den Benannten Stellen in den letzten Jahren ausgeweitet werden konnten. „Die Benannten Stellen, die im Markt bestehen bleiben, haben deutlich mehr Kapazitäten“, so der ZLG-Experte. Deswegen sei die Anzahl der Stellen alleine noch nicht aussagekräftig.

Die Rolle des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) beleuchtete Dr. Wolfgang Lauer, Abteilungsleiter Medizinprodukte beim BfArM. Auf Antrag einer Benannten Stelle oder einer Landesbehörde nimmt das BfArM beispielsweise eine Abgrenzung und Klassifizierung von Medizinprodukten bei strittigen Fragen vor. Ein wichtiger Bereich sind die klinischen Prüfungen von Medizinprodukten. Das BfArM ist zuständig für die Genehmigung klinischer Prüfungen von Medizinprodukten. Eine große Rolle spielt die Bundesbehörde auch bei der Vigilanz von Medizinprodukten. Das BfArM nimmt beispielsweise eine Bewertung sogenannter Vorkommnismeldungen vor. Beim Thema Datenbanken und Eudamed hat das BfArM die Aufgaben des mittlerweile eingegliederten DIMDI übernommen. Möglich ist bereits die Erfassung von Anzeigen nach der MDR.
Die zweite MDR-Branchenkonferenz der BVMed-Akademie wird am 18. Mai 2022 stattfinden.
-MBA