Der Begriff des Digital Twins wird in verschiedenen Branchen, unter anderem dem Gesundheitswesen, verwendet. Doch was bedeutet er im Zusammenhang mit Patientenpflege und Medizinprodukten?
Der Begriff „Digital Twin“ (digitaler Zwilling) wird je nach Quelle unterschiedlich definiert. Auf der englischen Wikipedia-Seite wird ein Digital Twin als „digitale Nachbildung einer lebenden oder nicht lebenden physischen Entität” bezeichnet. Laut NIC-Bericht handelt es sich bei einem Digital Twin um „eine virtuelle Darstellung eines physischen Objekts oder Systems während seiner gesamten Nutzungszeit“. Beide Definitionen sind richtig, doch die zweite ist etwas präziser, da sie die Dynamik eines Digital Twins während seiner gesamten Nutzungszeit stärker betont. Das bedeutet, dass die digitale Darstellung eines physischen Objekts oder Systems sowohl Ist- als auch Verlaufsdaten über den Zustand seines realen Gegenstücks umfassen sollte. Durch das Einbinden dieser dynamischen Daten in die virtuelle Darstellung werden dann proaktive Entscheidungsfindung, Prozessoptimierung und vollständiges Lebenszyklusmanagement im Gesundheitswesen ermöglicht.

Teil 1: Digital Twin eines Menschen
Beim Replizieren eines Menschen oder Patienten wird ein Digital Twin mithilfe der Vitalparameter-Überwachung in Kombination mit anatomischen und physiologischen Daten erstellt. In Zeiten, in denen Wearables und biomedizinische Sensoren weitverbreitet sind, können diese Daten aus mehreren Quellen stammen. Beispielsweise kann eine Smartwatch Echtzeitinformationen zu Blutdruck, Körpertemperatur, Pulsfrequenz, Schlafmuster und zum körperlichen Aktivitätsniveau des Patienten erfassen. Entsprechend kann das virtuelle Patientenmodell bei einem Termin in der Praxis oder im Krankenhaus mit den Daten der während des Termins durchgeführten Laboruntersuchungen und bildgebenden Diagnostik aktualisiert werden. Darüber hinaus können im Digital Twin auch Genetik- und Verhaltensdaten sowie soziale Einflussfaktoren einer Person kodiert werden. Ist die Gesamtheit dieser Daten in einer einzelnen virtuellen Darstellung eines Patienten vereint, steht zur Entscheidungsfindung ein vollständigeres Bild der Krankengeschichte des Patienten zur Verfügung.
Für diese virtuellen Nachbildungen eines Menschen gibt es viele mögliche Anwendungsgebiete. Beispielsweise kann ein Digital Twin eines Patienten zusammen mit KI-Modellen in der Präzisionsmedizin zum Treffen proaktiver Entscheidungen über die passenden Behandlungsmöglichkeiten für diesen speziellen Patienten genutzt werden. Ein virtuelles menschliches Modell könnte auch bei Simulationstests für neuartige medizinische Therapien und Arzneien eingesetzt werden, die mit einem echten Menschen zu riskant oder zu zeitaufwändig wären, wie innerhalb der FDA diskutiert. Beispielsweise könnte eine Auswahl von Chemotherapeutika in Abhängigkeit von den genetischen und physiologischen Prozessen des Patienten getestet werden, um das beste Ansprechen auf die Behandlung zu ermitteln. Virtuelle Modelle einzelner Organe können auch zum Entwickeln und Testen neuer Medizinprodukte verwendet werden – wie Herzmodelle zur Konzeption von Herzschrittmachern. Diese Arten von Untersuchungen sind als In-Silico-Medizin bekannt, mit denen in Zukunft klinische Studien unterstützt oder vielleicht sogar ersetzt werden können. Aus Sicht des Patienten ermöglicht ein Digital Twin mit Vitalparameter-Überwachung das proaktive Management chronischer Krankheiten, Fitnesslevel und des gesamten Gesundheitszustands. Die Kombination dieser Daten bietet die Grundlage für fundierte Entscheidungen zur persönlichen Gesundheit und für die Entwicklung einer gesünderen Lebensweise.

Teil 2: Digital Twin eines Medizinprodukts
Im Kontext von Medizinprodukten und -technologien versteht man unter einem Digital Twin die virtuelle Darstellung eines aktiven Geräts, die seine physikalischen Eigenschaften, die Umgebung und operative Algorithmen erfasst. Mit einer Kombination verschiedener Signale von eingebetteten Sensoren werden Informationen über den Ist-Zustand, die Konfiguration und die Wartungshistorie des Produkts gesammelt. Beispielsweise kann das Kühlaggregat Kühler in einem MRT-Scanner Daten über frühere Betriebstemperaturen des bildgebenden Geräts liefern, die sich direkt auf die verbleibende Nutzungsdauer ( Remaining Useful Life (RUL)) seiner Komponenten auswirken können. Außerdem können viele verschiedene zusätzliche Arten von Signalen, wie Schwingungen, Druckmessungen, Flüssigkeitspegel, elektrische Spannungen sowie solche zur Betriebsumgebung und zu Leistungsmetriken, gesammelt werden, um daraus eine aktuelle virtuelle Darstellung eines medizinischen Geräts zu entwickeln.
Medizinische Geräte sind in vielen Fällen sicherheitskritisch, und ihr Ausfall könnte das Leben von Patienten gefährden. Daher ist es unerlässlich, den ordnungsgemäßen Zustand des Geräts zu überwachen und es instand zu halten. In der Regel wird ein Medizinprodukt reaktiv oder präventiv gewartet. Bei der reaktiven Instandhaltung erfolgt die Reparatur erst im Falle einer Störung. Das erhöht die Ausfallzeiten des Geräts und kann ein Sicherheitsrisiko für den Patienten darstellen. Bei der präventiven Instandhaltung werden die Teile vorausschauend noch vor einer Fehlfunktion ausgetauscht, auch wenn das Ende ihrer Nutzungsdauer noch nicht erreicht ist. Diese Vorgehensweise bedeutet mehr Sicherheit für den Patienten, erhöht jedoch die Kosten aufgrund häufigerer Wartungsintervalle. Mit einem Digital Twin, der Verlaufsdaten aus dem Gerätebetrieb mit Machine-Learning-Modellen kombiniert, können fehlerverursachende Muster noch vor Auftreten einer Störung untersucht werden. Dieses Vorgehen wird auch als vorausschauende Wartung (Predictive Maintenance) bezeichnet, mit der die Nutzungsdauer der Gerätekomponenten ohne Gefahr für die Patientensicherheit maximiert wird. Auf diese Weise ermöglicht ein Digital Twin das effiziente und sichere Lebenszyklus-Management eines Medizinprodukts.

Teil 3: Digital Twin eines Krankenhauses
Digital Twins gibt es auch in größerem Maßstab, wie bei der Simulation kompletter medizinischer Einrichtungen oder Organisationen, zusammen mit ihren dynamischen Abläufen und Prozessen. Ein Beispiel hierfür wäre der Digital Twin eines Krankenhauses mit Modellen seiner Abteilungen und Ressourcen, um tägliche Abläufe zu optimieren und die Sicherheit zu verbessern. Bei diesen Einrichtungen könnte es sich beispielsweise um eine Intensivstation, die Radiologie, den Wartebereich für die Patienten oder einen Operationssaal handeln. In die Simulation dieser Bereiche könnte ein digitaler Schauplan der Stockwerke, der Unterbringung von Geräten und der Logistik einbezogen werden. Eine digitale medizinische Einrichtung könnte auch Betriebsdaten aus den Krankenhausinformationssystemen, wie Personaleinsatzpläne, administrative Aufgaben und Finanztransaktionen, einbinden. Würden alle diese Daten in einer virtuellen Darstellung vereint, könnte die Ablaufoptimierung bereits in wenigen Tagen oder Wochen erfolgen, anstatt Jahre des Ausprobierens in einer physischen Umgebung zu erfordern.
Mithilfe virtueller Nachbildungen medizinischer Einrichtungen könnten die Auslastung von Geräten und dadurch auch die Untersuchungs- und Einsatzmöglichkeiten erhöht werden. Beispielsweise ließen sich durch die Visualisierung der Logistik der Patientenaufnahme – über den Untersuchungsabschluss bis hin zum Verlassen des Gebäudes – die Prozesse, die die größten Verzögerungen verursachen, ermitteln und optimieren, um die Patientendurchlaufzeiten zu beschleunigen. In der Folge würden sich die Wartezeiten für die Patienten verkürzen, was positive Auswirkungen sowohl auf Patienten als auch Krankenhauspersonal hat. Entsprechend könnte die Personaleinsatzplanung je nach Bedarf an Krankenhausleistungen optimiert werden. Wird beispielsweise in der Notaufnahme immer zu bestimmten Zeiten in der Woche die höchste Nachfrage nach Notfallfallversorgung und Notfallmedizin verzeichnet, könnten die Personalressourcen dementsprechend dynamisch angepasst werden. Ein Digital Twin eines Krankenhauses würde eine intelligentere Ressourcenzuweisung und höhere operative Flexibilität ermöglichen, ohne die Sicherheit des Krankenhauses zu beeinträchtigen. All diese Aspekte zusammen tragen zu einer stärker auf den Patienten ausgerichteten medizinischen Versorgung und einer datenbasierten Entscheidungsfindung bei.
Beschleunigung der Digitalisierung im Gesundheitswesen
Digital Twins sind ein noch relativ neues Konzept im Gesundheitswesen. Das Feld entwickelt sich laufend weiter, und verbesserte Datenverarbeitungsfähigkeiten ermöglichen immer anspruchsvollere virtuelle Modelle. Auch Krankenhäuser, Arztpraxen und Medizingerätehersteller sammeln immer mehr Daten, die in diese Modelle einfließen, wodurch sie ihrem realen Pendant noch genauer entsprechen. Digital Twins sind ein Schritt in Richtung einer stärker am Patienten und an Werten ausgerichteten Gesundheitsfürsorge. Für Gesundheitsdienstleister und Hersteller ermöglichen Digital Twins eine effiziente Prozessoptimierung und ein besseres Produkt-Lebenszyklus-Management.
Autor:
Dr. Visa Suomi, Medical Devices Industry Manager, EMEA-Region, MathWorks
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