„Mini-Organe“ aus dem Labor revolutionieren die Wirkstofftestung von Medikamenten und Lebensmitteln.

Alle Hersteller von Medikamenten oder Lebensmitteln sind vor der Markteinführung eines Produktes dazu verpflichtet, die enthaltenen Stoffe auf Verträglichkeit und Unbedenklichkeit für den Menschen zu prüfen. Dies geschieht in aufwändigen und kostenintensiven Studien. Die Wirkstoffe müssen schließlich an lebenden Zellen getestet und ihre Wirkung dokumentiert werden. Dafür braucht es in der Regel noch immer Labortiere. Dies sind zunächst Kleinnager wie Mäuse und im Anschluss höher entwickelte Säugetiere wie Schweine, Hunde, Primaten oder Schafe.
Eine Alternative zu Tierversuchen hat die Jenaer Dynamic42 GmbH entwickelt. Das Unternehmen gehört zu den wenigen Anbietern in Deutschland, die humane Organmodelle auf eigens entwickelten Biotech-Chips zur Anwendung chemischer, molekularbiologischer und toxikologischer Tests herstellen. Diese dreidimensionalen in-vitro-Testsysteme, die wie „Mini-Organe“ funktionieren, werden beispielsweise Inhaltsstoffen von Lebensmitteln ausgesetzt, deren Verträglichkeit anschließend geprüft wird.
Die zugrundeliegende Organ-on-Chip-Technologie bietet eine moderne, präzise und effiziente Methode, um schädliche Auswirkungen von Lebensmittelzusätzen, Wirkstoffen, Nanotherapeutika und sonstigen biologisch-chemischen Substanzen zu untersuchen.
Mikrofluidische Chips als Träger von „Mini-Organen“
Im Organ-on-Chip-Verfahren wird Gewebe von menschlichen Organen nachgebildet und in mikrofluidisch unterstützten Chip-Systemen kultiviert. Die humanen Zellen werden über Kanäle in den Biotech-Chip eingebracht und kontinuierlich mit Nährstoffen und Sauerstoff versorgt. Letzteres geschieht durch die Nachstellung eines organspezifischen Blutflusses.
Die Chips von Dynamic42 bestehen aus biokompatiblem Kunststoff und sind aus zwei Kulturkammern aufgebaut, in denen entweder zwei gleiche oder unterschiedliche mikrophysiologische Modelle parallel betrieben werden. Diese sogenannten Kavitäten sind durch eine dünne, poröse Membran in einen oberen und einen unteren Zirkulationskanal unterteilt. Dadurch wird eine räumliche Trennung der organspezifischen Gewebe und des Blutflusses erreicht, ähnlich wie im menschlichen Körper. Gleichzeitig ermöglichen die Eigenschaften der Membran einen Stoffaustausch sowie wichtige Zellinteraktionen zwischen den Geweben. Die Membran ist fest in den Biotech-Chip integriert und flach, was die Kultivierung von engen Gewebebarrieren und die Bildgebung der vom Blutfluss durchströmten Zellen ermöglicht.
Die Kanäle jeder Kulturkammer können einzeln betrieben werden und unterstützen damit komplexe 3D-Zellkulturen mit einzigartigen Anforderungen. So ist es beispielsweise möglich, im Blutgefäß eine andere Zusammensetzung des Nährmediums abzubilden als in den organspezifischen Geweben. Solche unterschiedlichen Nährstoffgradienten findet man auch im menschlichen Körper wieder. Darüber hinaus können die einzelnen Modelle miteinander verbunden werden. Dies ist zum Beispiel für den Darm und die Leber möglich, um eine Stoffaufnahme am Darm, den Transport durch das Blutgefäß und die Verstoffwechselung in der Leber zu untersuchen.
Darmmodelle optimieren Testverfahren für Lebensmittelzusätze
Um beispielsweise Lebensmittelzusätze zu testen, züchtet Dynamic42 in der Kulturkammer des Biotech-Chips an der Membran menschliche Darmzellen. Durch den künstlichen Blutfluss werden die Darmzellen mit Nährstoffen versorgt. Zusätzlich bilden sich durch biomechanische Stimulation der Darmzellen zottenartige Strukturen und Funktionen wie im menschlichen Darm aus.
Optional können Bakterien der menschlichen Darmflora, das sogenannte Mikrobiom, eingebracht werden. Je nach Untersuchungsinteresse werden dem Darm-Chip Testsubstanzen hinzugefügt, wie etwa Lebensmittelzusätze, neue Wirkstoffe oder Umweltgifte. Die Reaktionen der Zellen auf diese Stoffe lassen sich anschließend unter dem Mikroskop auswerten.
So kann unter anderem geprüft werden, inwiefern die Darmzellen die zuvor beigefügten Zusatzstoffe aufnehmen und weiterleiten oder wie das Darm-Mikrobiom auf diese Zusatzstoffe reagiert. Ist eine Substanz schädlich, kann der Hersteller das weitere Testverfahren unter erheblicher Einsparung von Zeit und Kosten direkt abbrechen.
Zukunftsverfahren Organ-on-Chip
Die Organ-on-Chip-Technologie hat das Potenzial, die Überprüfung von biologisch-chemischen Substanzen zukünftig zu unterstützen und zu präzisieren. Die Biotech-Chips bieten eine hohe Standardisierbarkeit von Organmodellen, da sie keinen äußeren Umweltschwankungen ausgesetzt sind. Mögliche Zellveränderungen durch getestete Stoffe können bereits innerhalb weniger Stunden bis Tage nach der Hinzugabe von Substanzen mikroskopisch sichtbar gemacht und analytisch nachgewiesen werden.
So werden während einer Testung täglich Daten aus den Zellkulturmedien erhoben, die nach Ablauf des Testzeitraumes zusammen mit aus dem Chip isolierten Gewebe für weiterführende Untersuchungen verwendet werden können. Das ermöglicht unter anderem, mechanistische Fragestellungen aus der biologischen Grundlagenforschung zu untersuchen und zu beantworten. Außerdem bieten das Organ-on-Chip-Verfahren und die humanen Organmodelle eine ethisch vertretbare sowie verlässliche Alternative zu Tierversuchen und leisten einen erheblichen Beitrag, die Medikamenten- und Lebensmittelsicherheit zu erhöhen.
Dieser Beitrag erschien in der Ausgabe 2 der MED engineering.
Website: www.dynamic42.com