Erfahren, was im digitalen Sektor der Medizintechnikbranche aktuell ist: Beim 11. Innovation Forum Medizintechnik wurden am Donnerstag, 24. Oktober, mehr als 300 Fachbesucher in der Tuttlinger Stadthalle von fachkundigen Referenten und Impulsrednern auf den neuesten Stand gebracht. Quintessenz des Tages: Die künstliche Intelligenz kann einen massiven Beitrag zur Medizin leisten, wenn sie richtig eingesetzt wird. Kritik geübt wurde dabei an den Rahmenbedingungen, die durch gesetzliche Vorgaben Innovation zusehends erschweren.
Bei dem Forum von TechnologyMountains e.V., MedicalMountains GmbH und Industrie- und Handelskammer Schwarzwald-Baar-Heuberg bestimmte der Blick in die digitale Zukunft klar das Geschehen. Für Yvonne Glienke, Geschäftsführerin von TechnologyMountains e.V. und MedicalMountains GmbH, stand eher provozierend der Ausspruch „Keiner weiß, was morgen war“ am Beginn ihrer Begrüßung. Dr. Harald Stallforth, Vorstandsvorsitzender von TechnologyMountains e.V., umriss als erfahrener Medizintechnik-Experte die aus seiner Sicht vielversprechendsten Innovationsfelder in der Branche: Roboterchirurgie und die Entwicklung von Sensoren und Aktoren seien neben der Tissue-Technologie die derzeit spannendsten Bereiche. „Solche Innovationen können nur in Unternehmensnetzwerken wirklich sinnvoll vorangetrieben werden“, so Stallforth, „und dafür sind wir ja heute hier.“
Gelegenheit zum Austausch und Knüpfen neuer Kontakte gab es bereits am Vorabend bei dem „Innovation Warm-up“ mit dem diesjährigen Partnerland Österreich. Am Forums-Tag selbst standen neben zahlreichen bewährten Programmpunkten auch neue Formate wie die Couch-Gespräche oder der HypeCycle-Workshop zur Verfügung, um auf vielfache Weise Informationen einzuholen. Wichtige Impulse gaben die beiden Keynotes am Vormittag mit Prof. Joschka Bödecker, Juniorprofessor für Neurorobotik am Institut für Informatik der Universität Freiburg, und Dirk Barten, Geschäftsführer der Intuitive Surgical Deutschland GmbH.
Für Joschka Bödecker ist das maschinelle Lernen zentraler Forschungsgegenstand: Selbstlernende Programme seien den bisher üblichen Datenbanken deutlich überlegen, weil sie auch mit ungenauen Daten („Rauschen“) umgehen und Prognosen für noch unbekannte Datenpunkte schaffen könnten. Das ermögliche das sogenannte „Deep Learning“, bei dem sich ein System selbst Kriterien schaffe, um Aufgaben zu lösen – zum Beispiel die Unterscheidung von Fotos von Menschen, Hunden oder Katzen – oder die rasend schnelle und zuverlässige Auswertung von Röntgenbildern, die Bödecker als eines mehrerer Beispiele aktueller Anwendungen benannte. „Das System beurteilt 420 Aufnahmen in 1,5 Minuten – ein Team aus drei erfahrenen Radiologen brauchte dafür 4 Stunden.“ Eine andere medizinische Anwendung sei die Unterbindung epileptischer Anfälle durch ein Hirnimplantat, wie es die Uni Freiburg entwickelt habe: Das kleine Implantat erkenne mit seiner künstlichen Intelligenz immer besser, wann sich ein Anfall anbahnt und kann ihn durch Tiefenstimulation im Gehirn entweder unterdrücken oder deutlich verkürzen. Bei aller Innovation sieht Bödecker auch Risiken: So sei nicht nachvollziehbar, auf welchen Kriterien basierend „Deep Learning“-Systeme zu ihren Entscheidungen kommen. Zudem seien Algorithmen durch Manipulation bei der Dateneingabe noch sehr leicht zu täuschen. Basis für die Qualität künstlicher Intelligenz sei zudem die zugrunde gelegte Menge an Daten mit Beispielen, was jedoch in Konflikt mit dem Datenschutz geraten könne.
Für Dirk Barten stehen mit der vierten Generation des OP-Robotersystems „Da Vinci“ andere Themen im Fokus: So sei das seit 1999 auf dem Markt befindliche und inzwischen weltweit knapp 5000 Mal verkaufte Chirurgie-System inzwischen so weit gereift, dass es als „Intelligente Chirurgie“ bezeichnet werden dürfe. So übersetzen die OP-Roboter nicht nur die Handbewegungen eines Chirurgen mittlerweile viel präziser, sondern erkennen inzwischen auch die einzelnen Phasen einer Operation.
Dem Chirurgen können über eine 3D-Optik auch wichtige Zusatzinformationen wie Lagebefunde von Tumoren oder die Grenze zwischen gesundem und krankem Gewebe eingeblendet werden. Die Roboter-unterstützte Chirurgie mache minimalinvasive Operationen durch die extreme Beweglichkeit der OP-Instrumente noch schonender und helfe dadurch, Lebensqualität des Patienten zu verbessern und Kosten durch kürzere Klinikaufenthalte zu senken.
Diese Vorteile benannte Barten auf Frage von Moderatorin Yvonne Glienke auch bei der sich anschließenden Podiumsdiskussion: „Bei genauer Betrachtung amortisiert sich das durch sinkende Kosten für das Gesundheitssystem schneller als man meint. Das kann sich jede Klinik leisten.“ Harry Glawe, Minister für Wirtschaft, Arbeit und Gesundheit des Landes Mecklenburg-Vorpommern und ebenfalls Gesprächspartner auf der Bühne, verwies gleichwohl darauf, dass solch eine Ausstattung in seinem Bundesland eher für die größeren Zentren in Frage käme: „Hier geht es auch darum, die deutlich dünnere Besiedelung zu berücksichtigen.“ Die Fortschritte seien jedoch sehr spannend und unbedingt zu fördern, „diese Technologie kann und muss sich unsere Gesellschaft leisten.“ Auch als Exportprodukt seien solche Entwicklungen von großer Bedeutung.
Thomas Butsch, Vizepräsident der Industrie- und Handelskammer Schwarzwald-Baar-Heuberg und Geschäftsführer eines Medizintechnik-Unternehmens, verwies auf andere Aspekte: Neben ethischen Fragen wie die denkbare Erschaffung des „perfekten Menschen“ zähle der Datenschutz zu den Hemmschuhen der Entwicklung. Künstliche Intelligenz sei aber im Alltag bereits eine große Hilfe, zum Beispiel bei der Prozessplanung in der Fertigung oder bei der Lagerhaltung.
Auch Joschka Bödecker nannte den Datenschutz als wichtigen Aspekt, der die europäische Forschung auf diesem Gebiet ins Hintertreffen geraten lassen könne: Der freiere Zugriff amerikanischer und chinesischer Entwickler auf große Datenmengen mache ihnen einfacher, ihre künstliche Intelligenz mehr lernen zu lassen. „Wir brauchen Fortschritte in der IT-Sicherheit und bei der Verschlüsselung von Daten, um hier mithalten und dennoch den Datenschutz gewährleisten zu können.“ Für Minister Glawe sind die zitierten Ängste rund um den Missbrauch von Patientendaten real vorhanden, wenn auch nicht immer reflektiert. Er sieht in den USA ein günstigeres Klima für Startups rund um solche Themen als in Deutschland; hier sei die Politik gefordert, bessere Bedingungen zu schaffen.
Auf die Voraussetzungen, unter denen die Branche gegenwärtig in Europa arbeitet, spielte auch Yvonne Glienkes Frage an, wie man mit den Folgen der neuen Europäischen Medizinprodukteverordnung umgehen könne, die Innovation durch komplexe Zulassungsverfahren eher hemme: Für Thomas Butsch ist es oberstes Gebot, eine „Bleibekultur“ zu etablieren, auch wenn Forschung und Entwicklung hier mühsamer seien: „Unsere Spitzenkräfte werden abwandern, wenn die Rahmenbedingungen nicht mehr stimmen.“
Dass Spitzenleistungen trotzdem machbar sind, das zeigten die weiteren 20 Vorträge des Innovation Forum: In beiden Sälen der Tuttlinger Stadthalle befassten sie sich mit der praktischen Anwendung künstlicher Intelligenz über neue Fertigungsverfahren und Technologien bis hin zur Auseinandersetzung mit intelligenten Werkstoffen und Oberflächen.
Was die Branche derzeit an Innovationen – von der Fertigung über Software bis hin zu Beratungsleistungen – zu bieten hat, das präsentierten 50 Unternehmen und Institutionen in der forumsbegleitenden Ausstellung. Die Besucher konnten sich bei den erstmals angebotenen „Guided Tours“ ein Bild der Angebotspalette verschaffen, die von der Sensorik für Pflegebetten über Shopfloor-Management-Programmen bis hin zu Dokumentationslösungen für den Zulassungsprozess neuer Medizintechnik-Produkte reichte. www.medicalmountains.de