
Prof. Dr. Armin Schnettler (57) ist der neue VDE Präsident. Der CEO New Energy Business bei Siemens Energy ist bereits seit vielen Jahren im VDE aktiv und trieb maßgeblich die Themen Energiewende und Netzausbau an. Im Interview mit der Redaktion verrät er uns seine Pläne für die Medizintechnikbranche.
MED: Herr Prof. Dr. Schnettler, zunächst einmal herzlichen Glückwunsch zu der neuen VDE-Präsidentschaft. Erzählen Sie unseren Lesern doch kurz etwas über sich.
Prof. Dr. Schnettler: Da geben Sie mir eine nicht ganz leichte Aufgabe 😉. Man hat mir kürzlich gesagt, dass ich einer der wenigen Wanderer zwischen den Welten der Akademia/Wissenschaft und dem operativen Geschäft bin. Das ist sicherlich richtig. Als Elektroingenieur interessiere ich mich natürlich für Technik, Wissenschaft und innovative Lösungen – wichtig ist aber, dieses Know-how in ein entsprechendes Geschäft zu überführen. Das interessiert mich und dafür engagiere ich mich. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir letztlich über Inhalte erfolgreich werden – und damit haben wir sofort den Bezug zu meiner Präsidentschaft beim VDE. Der VDE steht für unabhängige Kompetenz und Inhalte. Und diese gilt es, zu sichern und auszubauen.
MED: Der VDE ist der Verband für Elektrotechnik, Elektronik und Informationstechnik. Welchen Stellenwert hat die Medizintechnik bei Ihnen? Wie können Sie die vielen kleinen und mittleren mittelständischen Unternehmen aus der Branche unterstützen?
Prof. Dr. Schnettler: Der VDE befasst sich seit vielen Jahren mit Medizintechnik. Wir erstellen Studien und Positionen, vermitteln Wissen in Fachveranstaltungen, erarbeiten Standards und Normen, erbringen Prüf- und Zertifizierungsleistungen und bieten praktische Unterstützung bei allen Fragen der Zulassung und CE-Zertifizierung von Medizinprodukten und Software. Aktuell ist die Medizintechnik einem starken Wandel unterzogen. Dies betrifft vor allem zwei Aspekte: Digitalisierung und Regulierung. Beides hat zur Folge, dass etablierte Geschäftsmodelle hinterfragt werden müssen. Vor allem für den Mittelstand kann dies zu einer Herausforderung werden. Wir haben uns als VDE mit dem Geschäftsbereich Health organisatorisch neu ausgerichtet, um dieser Entwicklung Rechnung zu tragen. Neuausrichtung bedeutet vor allem, die Expertise der gesamten VDE Gruppe zu Medizintechnik, Digitalisierung und Regulierung zusammenführen, innovative Gesundheitstechnologien voranzubringen und damit einen Mehrwert für die gesamte Wirtschaft als neutrale und beratende Technologieorganisation zu bieten.
MED: Sie betonten bereits in einer ersten Stellungnahme, dass Sie in Ihrer Amtszeit maßgeblich das Thema der Nachhaltigkeit angehen wollen. Was denken Sie, könnte im Bereich der Medizintechnik in dieser Sache verbessert werden?
Prof. Dr. Schnettler: Wenn wir über Nachhaltigkeit, Dekarbonisierung oder den ökologischen Fußabdruck unserer Wirtschaft sprechen, stehen zumeist die energiehungrigen Bereiche im Mittelpunkt der Diskussion, allen voran Energie und Mobilität. Fakt ist jedoch: Der Bereich Gesundheit ist mit etwa 6 Mio. Beschäftigten ein sehr großer und wichtiger Wirtschaftszweig in Deutschland und hinterlässt demzufolge auch einen erheblichen ökologischen Fußabdruck. Die Medizintechnik ist dabei ein bedeutender Teil der Gesundheitswirtschaft. Sie stellt Medizingeräte, -systeme oder komplette Lösungen bereit und beeinflusst den ökologischen Fußabdruck somit stark. Es gibt viele Beispiele, wie hier über die Medizintechnik positiv Einfluss genommen werden kann, insbesondere über den Energie- und Wasserverbrauch, die Auswahl und Verwendung von Materialien, über Wiederverwendung und Abfallvermeidung aber auch über konstruktive Merkmale oder Produkt-Lebenszyklen. Ich gehe davon aus, dass uns das Thema Nachhaltigkeit in der Medizintechnik stärker als bisher beschäftigen wird. Wir müssen Medizintechnik und Nachhaltigkeit vor allem besser mit den Anwendern und Betreibern erörtern. Das sind zuallererst die Krankenhäuser.
MED: Als weiteres Thema haben sie den Bereich Safety & Security genannt. Gerade in der Medizintechnik ist man auf hohe Sicherheitsanforderungen angewiesen, da ein Versagen schnell zu drastischen Komplikationen führen kann. Wie unterstützt der VDE die Hersteller hier?
Prof. Dr. Schnettler: Sicherheit ist eine unabdingbare Anforderung an alle Medizinprodukte, denn es geht letztlich um Menschenleben. Daher erarbeitet VDE DKE Medizintechniknormen und das VDE Institut prüft, ob Sicherheitsanforderungen an Medizinprodukte eingehalten werden. Was wir sehen ist, dass die schnell voranschreitende Digitalisierung Sicherheitsanforderungen in der Medizintechnik stark beeinflusst. Medizingeräte werden stärker vernetzt, Gesundheitsdaten stehen in wachsendem Umfang zur Verfügung, und die Daten werden in der medizinischen Versorgung eingesetzt. Daher sind sowohl Datenschutz als auch IT-Sicherheit für Medizinproduktehersteller und -betreiber zu sehr wichtigen Themen geworden. Die Anforderungen sind zweierlei: zum einen müssen Hersteller und Betreiber ihre Systeme härten und angemessen auf Bedrohungen reagieren können. Zum anderen müssen sie eine Reihe von Gesetzen, Datenschutzbestimmungen und Dokumentationspflichten berücksichtigen. Der VDE hat hier zum einen mit seinem Computer Emergency Response Team, dem CERT@VDE, ein Angebot geschaffen, das hilft, Bedrohungen früh zu erkennen und damit effektiv umzugehen. Zum anderen richtet sich mit VDE MeSo ein Beratungsangebot ausdrücklich an Hersteller medizinischer Software, die Unterstützung bei der regulatorischen Compliance ihrer Medizinprodukte benötigen.
MED: In diesem Zug möchte ich auf Künstliche Intelligenz zu sprechen kommen. Der VDE warnte im Jahr 2018 davor, dass Deutschland der KI hinterherläuft. Ist Innovationsgefahr in dieser Angelegenheit Ihrer Meinung nach noch immer ein schwieriges Thema? Gerade in der Medizintechnik erreichen uns viele Meldungen über innovative Lösungen in der Bildgebung, die auf KI basieren.
Prof. Dr. Schnettler: Deutschland befindet sich bei KI-Lösungen in einem harten internationalen Wettbewerb, auch in der Medizintechnik. Es ist aber auch seit 2018 deutlich geworden, dass die entscheidenden Schlachten nicht um die Leistungsfähigkeit von Algorithmen, um die geschickte Nutzung von Synergien zwischen Ärzten und Technik oder um die besten Roboter geschlagen werden, sondern um den Zugang zu Patientendaten. Hier bemühen sich Google, Amazon, Apple und andere gezielt darum, ihren starken und datenträchtigen Zugang zu ihren Kunden außerhalb der medizinischen Versorgung auszunutzen, um auf diese Weise in den jeweiligen Gesundheitssystemen selbst Fuß zu fassen. Dies gelingt, weil die Konzerne sich nicht um die Versorgungs- und Erstattungslogik unseres Gesundheitswesens kümmern müssen und sich daher vielen der traditionellen Stellschrauben entziehen können. Der aktuelle Diskussionsprozess rund um einen European Health Data Space zeigt die Wichtigkeit des Themas. Wir müssen hier zu einem ausbalancierten Kompromiss zwischen potenziellem Gesundheitsnutzen durch Nutzung von Gesundheitsdaten einerseits und Anspruch auf informationelle Selbstbestimmung andererseits kommen.
MED: Apropos Innovationsgefahr: die Medical Device Regulation (MDR) macht trotz Verschiebung des Geltungsbeginns vielen kleinen, mittelständigen Unternehmen in der Branche Sorgen. Die Umsetzung der neuen Richtlinien zu stemmen ist für viele Unternehmen eine Mammutaufgabe – besonders in Zeiten der Corona-Pandemie. Steht der VDE mit der Politik in dieser Sache im Austausch?
Prof. Dr. Schnettler: Ich würde hier eher von einer Regulierungs- anstelle einer Innovationsgefahr sprechen, denn die MDR wird dazu führen, dass es viele Medizinprodukte zukünftig nicht mehr geben wird. Die neuen Anforderungen sind hoch, schwer verständlich und vielfach nicht umsetzbar. Seit Inkrafttreten der MDR, d.h. in den vergangenen 3 Jahren, hat die EU-Kommission wesentliche Voraussetzungen für die Umsetzung der MDR nicht schaffen können. Beispiele sind die nicht funktionsfähige EUDAMED-Datenbank, zu wenige Benannte Stellen und fehlende Rechtsakte. Warum also sollte das jetzt in den vor uns liegenden “Corona-Monaten” bis zum 25. Mai 2021 gelingen? Wichtig ist mir aber: auch wenn die MDR derzeit das beherrschende Thema der Medizintechnikbranche ist, sollten wir nicht aus dem Blick verlieren, was Innovation letztlich ausmacht. Innovationen sind technologisch und medizinisch überzeugende Produkte und Lösungen, die einen echten Mehrwert bieten. Diese werden sich in internationalen Märkten durchsetzen. Dafür brauchen wir die richtigen Rahmenbedingungen, und diese werden wir intensiv im Dialog mit der Politik und allen anderen Stakeholdern erörtern.
Aus der Ausgabe 5/2020 der MED engineering. -MBA