Das 1×1 für Klasse-I-Hersteller. Wenn Behörden die Dokumentation sehen wollen, hat man hoffentlich an alles gedacht.

Der Luxus, bei der Zulassung der eigenen Medizinprodukte von keiner Benannten Stelle abhängig zu sein, klingt auf den ersten Blick verlockend, doch es werden schnell essentielle Teile übersehen, wenn einem Niemand „auf die Finger schaut“. Doch eins nach dem anderen:
Mit Geltungsbeginn der Medical Device Regulation (EU-Verordnung 2017/745; kurz MDR) seit 26. Mai 2021 ergaben sich zahlreiche regulatorische Neuerungen, die nun ganz im Sinne einer Verordnung unmittelbar für Mitglieder der Europäischen Union gelten – ohne dass sie in nationales Recht übernommen werden müssen. Der Grundtonus der MDR ähnelt zwar ihrer Vorgänger-Richtlinie, allerdings ist sie vor allem strenger, detaillierter und „moderner“. Allen voran zeigt sich dies bei den Grundlegenden Sicherheits- und Leistungsanforderungen im Anhang I, die nun z.B. auch den Umgang mit Nanopartikeln, die Auslegung von Software oder sog. „stoffliche Produkte“ adressieren oder teils überhaupt erst beachten.
Wer sich nun von solchen „exotischen Produktgruppen“ bzw. neuen Anforderungen nicht angesprochen fühlt, kann zwar Recht haben und die Änderungen bei den eigenen Klasse-I-Produkten sind marginal. Allerdings lohnt sich hier der tiefe und detailliertere Blick in den Gesetzestext, da man sonst Gefahr läuft, nicht-konform Medizinprodukte in Verkehr zu bringen (und hier käme dann schließlich doch nationales Recht zur Anwendung…).
Was also tun?
Zunächst empfiehlt sich der Blick aufs eigene Unternehmen und die Rolle, die man für sich definiert hat: Sind wir Händler, Importeur, Bevollmächtigter oder gar Hersteller? Was genau meinen wir mit Hersteller? Produzent und/oder Inverkehrbringer? Oder nur Distributor, bzw. EU-Repräsentant? Aber wir haben doch diese OEM/PLM Konstellation…?
Es gibt viele Begriffe, verschiedene Bedeutungen und letztendlich doch nur eine korrekte Formulierung. Die MDR definiert sehr deutlich die unterschiedlichen Rollen und leitet im Nachgang deren Pflichten ab, sodass man zur Vermeidung von Missverständnissen am besten bei den offiziellen Begrifflichkeiten bleibt.
Und auch wenn der Teufel im Detail steckt, ist es prinzipiell einfach: Wer Medizinprodukte entwickelt, produziert und in Verkehr bringt, gilt als Hersteller und die entsprechenden Pflichten sind im Artikel 10 der MDR formuliert. Die Pflichten von Händlern, Bevollmächtigten und Importeuren finden sich in Nachbarartikeln, ferner definiert Art. 16 sogar, was man als juristische Person ausdrücklich NICHT darf, da man sonst wiederum als Hersteller gilt.
Kritisch wird es aber vor allem dann, wenn die Prozesse der Produktrealisierung an Dienstleister ausgelagert sind oder nicht im eigenen Unternehmen durchgeführt werden. Denn wer durch die ISO 13485 gewohnt ist, geforderte Prozesse schnell als „ausgeschlossen“ zu markieren, tappt in die Falle zu übersehen, dass die MDR nun explizit solche Informationen als Teil des QM-Systems fordert. Dies betrifft u.a. neben der Entwicklung und Bereitstellung von Dienstleistungen auch die Klinische Bewertung, das Post-Market Surveillance (inkl. PMCF) und die Anbringung der UDI. Zu beachten sind in diesem Zuge auch die Ernennung einer Verantwortlichen Person (Art. 15), die Registrierung in EUDAMED sowie die Erstellung und Aufrechterhaltung einer Technischen Dokumentation nach Anhang II und III.
An all dies (und noch mehr) will also gedacht sein, wenn man Medizinprodukte in Verkehr bringen will – oder die Prüfung der Dokumente durch eine Behörde angekündigt wird.
Wer nun aber bereits langjährig oder gar jahrzehntelang „unkritische“ Produkte auf dem Markt hat – sprich typischerweise Produkte der Risikoklasse I -, neigt womöglich dazu, eine gewisse Trägheit an den Tag zu legen, wenn es um regulatorische Neuerungen geht. Dies kann jedoch schnell dazu führen, dass man auch den neuen Klassifizierungsregeln im Anhang VIII nicht ausreichend Beachtung geschenkt hat und das Produkt jetzt schlichtweg gar nicht mehr der Klasse I zugeordnet wird.
Das wahrscheinlich prominenteste Beispiel für die Höherklassifizierung stellt die Regel 11 dar, wonach inzwischen fast sämtliche medizinische Software mind. der Klasse IIa zugehört. Lediglich wenige Ausnahmen wie Software bzw. Apps zur Unterstützung beim Kinderwunsch werden in offiziellen Leitlinien noch als Klasse-I-Software genannt. Ähnlich verhält es sich bei „simplen“ Meerwasser-Nasensprays, die gemäß Regel 21 nun als „stoffliches Produkt“ gelten und damit ebenso höher eingestuft werden. Zudem werden nun auch Produkte, die zur Sterilisation von Medizinprodukten verwendet werden, selbst zum Medizinprodukt. Hier ist also Achtung geboten.
Denn was hier zwar nach einer überschaubaren Änderung aussieht, hat gravierende Konsequenzen für die betroffenen Unternehmen. Denn Höherklassifizierung…
- heißt Notwendigkeit einer Benannten Stelle für die Zertifizierung,
- heißt verpflichtend die Implementierung eines QM-Systems nach ISO 13485,
- heißt Auditierung und Re-Zertifizierung,
- heißt höherer Personalaufwand,
- heißt evtl. PMCF Aktivitäten,
- heißt PSUR,
- heißt ggf. Stillstand bei Weiterentwicklungen,
…und so weiter.
Hinzu werden vermehrt Nachweise gefordert wie z.B. Materialprüfungen gegenüber Reinigungs- oder Desinfektionsvorgängen, Transportvalidierung, eine Biologische Evaluierung nach der neuen ISO 10993-1, Aktualisierung der Klinischen Bewertung mit neuen MDCG Guidelines und zur Usability. Und zu vergessen sind dann obendrein nicht die zuvor erwähnten Pflichten einer Verantwortlichen Person, EUDAMED, UDI, usw., vor denen auch die nicht gefeit sind, die die Übergangsbestimmungen von MDD auf MDR für sich anwenden können.
Und selbst, wer sich all dies überhaupt noch leisten kann, muss hoffen, gar noch eine freie Benannte Stelle zu finden…
Ein gutes dreiviertel Jahr MDR zeigt es also: Die neue Verordnung hat es in sich und wer blind an Gewohntem festhält, geht ein hohes Risiko ein.
Autor:
Philip Eschenbacher, M.Sc.
Head of R&D / Senior Consultant Regulatory Affairs & QM
Dieser Beitrag erschien in der Ausgabe 1/22 der MED engineering