Der Trend der künstlichen Intelligenz in der Medizintechnik
Würden Daten als das neue Öl gesehen werden, wäre die Künstliche Intelligenz (KI) die Raffinerie, die diese Daten verarbeitet. Dessen ungeachtet werden KI-Anwendungen nicht nur vorteilhaft wahrgenommen. Um Hintergrundinformationen rund um das Thema Künstliche Intelligenz aus erster Hand zu erhalten, sprach die Redaktion der MED engineering mit den beiden KI-Experten Prof. Dr. Volker Gruhn, Aufsichtsratsvorsitzender des IT-Dienstleisters adesso SE, und Dr. med. Thorsten Hagemann, Senior Business Development Manager Health, adesso SE.

Herr Prof. Gruhn, die Technologie der KI ist in immer mehr Lebensbereichen zu finden. Zeitgleich folgt nach einer ersten Euphorie oftmals eine Phase der Ernüchterung. Wie steht es also um den Hype KI?
Prof. Gruhn: Aus dem Blickwinkel des Softwareingenieurs sind KI-Technologien keine neue Entwicklung. Die Grundlagen wurden bereits Mitte des letzten Jahrhunderts gelegt. Es gab bei dem Thema immer wieder Wellen der Begeisterung und Ernüchterung. Aktuell kommen drei Faktoren zusammen, die der Entwicklung ungeahnten Schwung geben. Das sind Daten, Speicher und Algorithmen. Ob Menschen, Maschinen, Sensoren oder Websites: Nahezu alle Daten, die die Menschheit jemals erzeugte, hat sie in den letzten Jahren produziert. Gleichzeitig wird es immer günstiger, diese Daten zu speichern. Die Kosten für Speicherplatz fallen ins Bodenlose. Parallel dazu gibt es laufend Fortschritte auf den Gebieten der Rechenleistung und der Algorithmen: Spezielle Grafikprozessoren und Methoden wie Deep Learning reduzieren Aufwand und Zeit für das Entwickeln neuer Anwendungen. Die Technologien sind jetzt reif für den Einsatz in den Unternehmen. Viele Verantwortliche haben aber noch keine genaue Vorstellung davon, was KI-basierte Anwendungen leisten können. Dies kommt in vielen Gesprächen zum Ausdruck, die wir mit Unternehmensentscheidern führen. Jetzt gilt es, die Möglichkeiten, die KI-Anwendungen eröffnen, in der Praxis wahr werden zu lassen. Dazu braucht es IT- und KI-Fachleute ebenso wie Branchenexperten, beispielsweise aus der Medizintechnik, die die Besonderheiten und Anforderungen der eigenen Industrie kennen.
Welche Rolle spielen KI-Programme im Bereich der Medizintechnik?
Dr. Hagemann: In der Medizintechnik kommen KI-Anwendungen vor allem dort zum Einsatz, wo heute bereits große Datenmengen vorliegen. Dies ist etwa in den Bereichen bildgebender Verfahren oder der Forschung der Fall. Ziel ist es, durch eine KI-Applikation medizinischen Nutzen zu erzeugen, sei es zur Unterstützung bei Diagnosen durch Mustererkennung, Prozessoptimierungen oder spezifische Fragen durch Auswertung großer, teils unstrukturierter Datensätze. Der Einsatz Künstlicher Intelligenz wird also auch in medizintechnischen Anwendungen eine immer relevantere Rolle spielen. Bei der Betrachtung zukünftiger Entwicklungen darf man die synergistischen Wechselwirkungen mit anderen neuen Technologien, wie beispielsweise der Miniaturisierung und dem Internet der Dinge (IoT) nicht außer Acht lassen.

Was ist erforderlich, um KI-Technologien aufzubauen und zu installieren, damit diese auf breiter Basis genutzt werden können?
Prof. Gruhn: In einer These, die wir zum Thema KI aufstellten, sagen wir „KI fängt mit ‚D‘ wie ‚Daten‘ an“. Der Satz fasst die Rolle, die Daten im Umfeld der Entwicklung von KI-Anwendungen spielen, gut zusammen. Vorhandene Daten sind das Fundament, auf dem KI-Lösungen aufbauen. Aber aus welchen Töpfen stammen sie? In welcher Qualität liegen sie vor? In welchen Formaten? Wie ist die rechtliche Situation der Nutzung? Für KI-Projekte sind die entscheidenden Fragen. Und das sind die Fragen, die die Beteiligten zu Beginn eines Projektes klären müssen. Erst wenn darüber Klarheit besteht, können sich die Experten an das Entwickeln von Modellen und die Auswahl von KI-Verfahren machen.
Das bedingt Maßnahmen zur Daten- und Qualitätssicherung …
Prof. Gruhn: Der Einstiegspunkt in das Entwickeln einer KI-Anwendung ist häufig ein übergeordneter Softwareentwicklungsprozess. Hier stoßen die Beteiligten auf eine Fragestellung, von der sie vermuten, dass KI-Verfahren einen Lösungsansatz liefern. Insbesondere die Anfangsphase ist für den gesamten Projektverlauf von großer Bedeutung. Denn wie schon erläutert steht und fällt das Entwickeln KI-basierter Anwendungen mit der vorhandenen Datengrundlage. Zunächst verschafft sich das Projektteam ein Bild von dieser Grundlage. Die eingehende Prüfung zu Beginn stellt sicher, dass die Beteiligten das KI-Potenzial ihres Entwicklungsprojektes richtig einschätzen: Falls die Datenlage sich für KI-Ansätze nicht eignet, erkennen sie dies direkt zu Beginn – und nicht erst, wenn bereits im großen Maßstab Ressourcen in das Projekt geflossen sind.
Oft muss das Projektteam die notwendigen Daten erst beschaffen und aufbereiten. Anschließend lernen die Projektmitglieder ein Modell auf der Basis von Trainingsdaten an. Die Funktionsfähigkeit des Modells prüfen sie mit Testdaten. Hinzu kommt das Integrieren vorgefertigter KI-Services, wie Chatbots oder Services aus dem Bereich des Maschinellen Lernens. So entstehen Systeme, die klassische Informationssysteme umfassen, die cyberphysikalische Anteile haben und die KI-basiert sind. Das sind Systeme, die fit sind für aktuelle und zukünftige Anforderungen.
Wie unterscheiden sich KI-Applikationen von Standard-Informationstechnologien?
Prof. Gruhn: Um KI-Anwendungen von klassischen Informationssystemen abzugrenzen, betrachten wir ihre jeweiligen Grundlagen. Während Experten Informationssysteme auf Basis von regelbasiertem Wissen entwickeln, spielen bei KI-Lösungen wie schon erwähnt Daten die entscheidende Rolle. Ob gespeicherte oder Echtzeitdaten, interne oder externe, reale oder simulierte: Diese Anwendungen sind datengetrieben. Sie erkennen Muster und Zusammenhänge, die menschliche Beteiligte aufgrund der Komplexität oder aufgrund der Datenmengen nicht finden. Diese Fähigkeiten sind die Grundlage für neue Anwendungen, andere Geschäftsmodelle oder verbesserte Prozesse.
Für das Entwickeln klassischer Informationssysteme gibt es eine ganze Reihe bewährter Methoden und Verfahren, auf die sich Entwickler verlassen können. In einzelnen Projekten mag es Abweichungen bei Kosten oder Lieferdatum geben, aber prinzipiell ist das Entwickeln einer Softwareanwendung ein prognostizierbarer Prozess. Anders sieht es bei datengetriebenen Anwendungen aus. Hier wissen die Beteiligten im Vorfeld häufig noch nicht, ob KI-Verfahren überhaupt zum gewünschten Ergebnis führen – Stichwort Datengrundlage. Denn es ist nur dann möglich Zusammenhänge abzuleiten, wenn die vorliegenden Daten die relevanten Informationen auch enthalten. Die Verantwortlichen müssen im Hinterkopf behalten: Das Entwickeln von KI-Systeme ist ein Entdeckungsprozess, dessen Ergebnis sich nicht immer vorhersagen lässt.

Zukünftig sollen KI-Applikationen eine Vielzahl an Optionen bereitstellen. Welche Innovationen erwarten Sie im Bereich der Medizintechnik in naher Zukunft?
Dr. Hagemann: Momentan lässt sich noch nicht absehen, in welchen Einsatzszenarien die KI demnächst bei der medizinischen Versorgung eine Rolle spielen wird – vielmehr, wo sie es nicht tun sollte. Sicherlich werden KI-Applikationen mehr und mehr Einzug in unser Leben halten, etwa in Form von Wearables oder der Begleitung bei Behandlungsprozessen in Form von Gesundheits-Apps. Gleichwohl muss, damit KI-Anwendungen funktionieren können, der Zugang zu individuellen Daten gegeben sein, daher ist es auch eine Frage der („User“-)Akzeptanz. Künstliche Intelligenz wird zunächst in weiteren diagnoseunterstützende Lösungen Einzug halten: Ein Wearable, das Vorhofflimmern erkennt, eine Kamera, die Veränderungen des Augenhintergrundes detektiert und so den Arzt bei der Diagnostik unterstützen sind heute bereits Standard. Gleichermaßen werden Therapien, Therapieleitlinien und sogar Prognosen auf Basis von KI neu gedacht werden. Bald wird die KI dem Einzelnen also einen großen Nutzen bieten können und damit Einzug in den medizinischen Alltag gehalten haben. Auch wenn die KI heute noch als neue Technologie gesehen wird, wird es künftig sicherlich kaum mehr Diskussionen darüber geben, wie sich KI-Applikationen auf unseren Alltag auswirken, da sie schnell selbstverständlich geworden sein werden.
Vielen Dank für das Gespräch, meine Herren.
-mba
Das Interview und viele weitere spannende Fachartikel finden Sie in der aktuellen Ausgabe der MED enginnering 3/20.